AUS DEM NORWEGISCHEN DES SIGBJOERN OBSTFELDER
(UEBERTRAGEN VON DAGNY PRZYBYSZEWSKA)
Es giebt in grossen Städten dunkle Winkel, abseits gelegene Strassen mit sonderbaren Namen: Namen, die Ahnungen erwecken von einer Dämmerung des Lebens, wo Manches vorgeht, das nicht einmal Bücher kennen.
Ich wohne zur Zeit in einer solchen Strasse. Es ist so still da. Es kann vorkommen, dass eine Milchkarre vorbeifährt, oder ein Kohlenwagen, oder dass ein Scheerenschleifer von Haus zu Haus zieht. Nachher aber wird es hier doppelt still.
Keine reichen oder ,feinen‘ Leute seh’ ich, keine von denen, die in den Zeitungen stehen oder im Staatskalender. Und doch haben die, denen ich begegne so viel Adel in den Augen. Wer weiss: Vielleicht haben sie da oben in den grossen, dunklen Gebäuden ein Geheimnis: ein helles Erkerzimmer, einen Kanarienvogel inmitten der Fensterblumen, ein geerbtes Theeservice von altem Porzellan.
Wenn ich Abends nach Hause komme und aus den breiten Strassen in meine Gasse biege, begeben sich meine Gedanken in eine neue, eigne Welt. Hier ist nichts, was sie übertäubt.
Nicht weit von meiner Wohnung ist ein Kellercafé, das ich oft besuche, wenn es dunkel wird. Da ist es dann gewöhnlich leer. Ich sitze da so gern. Ich kann da so lange, so lange sitzen bleiben.
Ich weiss kaum, warum es mir gefällt. Ich glaube, dass ich meistens nicht einmal denke; ich habe nur ein Gefühl von Frieden, dass Alles jetzt so leise ist, dass die grossen, schweren Fragen und die furchtbaren Zweifel und alles das Pathetische, dass dies Alles nicht da ist, dass ich still atme und die Menschen sich so lautlos um mich herum bewegen, leben und sich geben, ohne Klage, und ohne zu fordern, dass grade ich mitthun soll.
Da können auch Bilder und Erinnerungen kommen, etwas wie von fernem Waldessausen, Meeresbrausen, sonniger Kindheit. Das thut nicht weh. Das reisst nicht immerfort an meinem Innern. Nein, das ist wie Laterna-Magica-Erscheinungen, die sanft an mir vorübergleiten hier unten im Keller, während ich langsam meinen Kaffee trinke.
Es mag dasselbe sein, was man so fühlt, wenn man zur Sommerzeit in einer kleinen Dorfkirche sitzt. Die Thüren sind offen. Heuduft stiehlt sich herein. Ueber den Boden zum Altare hin fliessen farbige Sonnenstrahlen. Da sitzt man und betrachtet sie, und alles Andre wird wie Traum.
* * *
Ich kenne ja einige Menschen in dieser Stadt, aber es ist selten, dass ich sie besuche. Und das mit einer eigenen Scheu. Es ist, als hätte ich Angst, man wolle mir was nehmen. Ich stehe lange unten vor den Fenstern, sehe die Schatten der Köpfe auf den Gardinen sich abzeichnen, weiss nicht, ob ich den Mut habe, hinaufzugehen in das viele Licht.
Ist es eine Einbildung? ich finde, sie sehen mich immer so sonderbar an. Oder ist in meinen Gang, in meinen Bück doch etwas gekommen, etwas — — ja etwas von meiner entlegenen Strasse, von meinem Keller? Ich habe so ein Bedürfnis bekommen, still zu gehen und leise zu sprechen. Es ist mir peinlich, wenn Jemand schreit oder laut lacht.
Auch kann ich nicht an Gesprächen teilnehmen. Es unterhält mich nur, so dazusitzen und zuzuhören. Nicht so, dass ich den Zusammenhang auffasse. Ich verstehe das nicht mehr, wovon sie sprechen. Ich kann nicht begreifen, dass sie das Alles interessiert. Ich finde, es hat so wenig mit dem Eigentlichen zu thun; mit dem, wozu wir leben und sterben.
Für mich ist es nur ein Konzert von Menschenstimmen. Ich sehe, wie ihre Gehirne arbeiten, um das rechte Wort zu finden; ich höre ihre Stimmen sich heben und senken. Zuweilen werden sie zornig.
Ich sitze da und lausche; ich sehe ihre Gesichter glühend werden, die Hände die Gläser heben, höre sie fluchen, lachen, auf den Tisch schlagen.
* * *
Ich verstehe nicht, was mit mir vorgeht. Ich sitze Abends und lausche nach allerlei Lauten, die nicht da sind. Ich muss doch diese Schritte schon früher gehört haben. Ich wohne schon seit einem Monat hier, und so viel ich weiss sind keine Neuen eingezogen. Ich habe sie also erst in letzter Zeit bemerkt.
Um die Hausecke herum, — in letzter Zeit irre ich mich niemals mehr in ihnen, — an meinen Fenstern vorbei, in die Hausthür herein, die Treppen herauf. Wie leicht sie sind! Sie muss jung sein.
Ich sehne mich, sie auch heute Abend zu hören. Und das Rauschen des Kleides.
* * *
Es ärgert mich, aber ich kann mir nicht helfen: Wenn ich ein junges Weib treffe, frage ich mich: Ist sie’s? Und ich glaube sicher zu wissen, dass keine von ihnen es bis jetzt gewesen ist. Ist es nicht sonderbar?
Ich konnte ja einfach gehen und sie wie zufällig im Flur treffen. Es ist aber, als hielte mich etwas zurück.
Wenn sie da draussen auf der Treppe ist, kann ich es nicht hindern, dass mein Herz zu klopfen anfängt. Das ärgert mich.
* * *
Ich habe einen Brief von Albert gehabt. Das erinnert mich an die Sommertage. Ja, die Tage!
— — Wenn das grüne Meerwasser dalag und die Felsenbrüste hinaufdampfte, klar, dass wir die Gärten des Grundes sahen, — draussen zwischen den Halmen, — ihr entblösster Arm mit der Angelschnur, ich sehe vor mir den grauen Schatten auf dem Wasserspiegel.
Er schreibt, sie habe von mir gesprochen — —
Von mir gesprochen — —
Das ist mir so fern geworden. Ihre roten, munteren Backen, ihre Lachaugen, diese sprudelnde Lust, mitten ins Leben hinaus zu hüpfen, was es auch bringe, Freude oder Schmerz, — die blonden Nächte da zu Hause, — das ist mir so sonderbar fremd geworden, wie eine leise Kindheitserinnerung.
Magda. Magda. — — Nein, ich will nicht wieder da hinein. Ich will noch viele Jahre nicht nach Hause.
Die tiefe Ruhe hier, die ist doch edler und giebt mir mehr. Viele Augen sind darin, klare und gebrochene, — die gelitten haben und wissend sind. Sie sehen mich an in den Nächten, und ich fühle, dass ich der ihre bin.
Nein, Magda, du sollst lachen in Sonne und freier Luft, — ich — ich bin in der Schule. —
Wenn sie jodelte, da hinauf gegen die Ringdalswand, wie ihre Stimme frisch war! Die Natur sang mit, wenn sie sang.
* * *
Spät Abends, — ja so spät, um Ein Uhr zuweilen, — höre ich nackte Füsse auf dem Boden über mir huschen. Sie hüpft in ihr Bett. Dann löscht sie das Licht aus oder die Lampe, denke ich mir, und legt sich schlafen. Dann lege ich mich auch. Denn wenn sie sich gelegt hat, dann wird mir so unendlich allein zu Mute, und dann kann ich nicht mehr arbeiten. Wir stehen auch Morgens zur selben Zeit auf. Und vielleicht haben wir auch gleichzeitig dieselben Gedanken.
Ob sie mich wohl auslachen würde, wenn ich zu ihr hinaufginge und ihr sagte, dass auch ich ein einsamer Mensch bin, dass ich, wenn ich auch ein Mann sei und ihr fremd, doch dieselben Freuden und Schmerzen und dieselbe Sehnsucht habe wie sie?
Aber wer sagt mir, dass sie so einsam ist? Sie ist den ganzen Tag über draussen, wahrscheinlich trifft sie den Einen oder Andern. Und selbst wenn sie es wäre: wer sagt, dass sie blass ist? Dass sie denkende Augen und feine Hände hat?
— — Die Uhr ist schon Elf. Dann ist sie wohl auf einem Fest. Ich bin nicht auf einem Fest. Warum soll sie es denn sein?
Dann kommt gewiss Einer und begleitet sie nach Hause, ein Liebhaber, vielleicht ein flotter Student.
— — Schritte. Sie ist es. Sie ist allein. Ae! was habe ich darüber froh zu sein!?
Vielleicht ist sie heut Abend traurig gewesen, ging hinaus in Wind und Wetter, ging und weinte und dachte an alte Tage.
Sie legt sich gleich. Ich kann es nicht deutlicher hören, aber etwas geht vor sich, das anders ist als sonst. Sie ist am Bette, das ist mir deutlich, aber sie hat sich noch nicht gelegt.
Die Arme! Jetzt verstehe ich:
Sie liegt auf den Knieen, gräbt ihren Kopf in die Betten, fragt sich wieder und wieder: Warum bin ich?
* * *
Ich bin heute bei dem lahmen Maler gewesen. Ein altes Haus mit schiefen, verfallenen Treppen. Ein paar Bodenkammern mit schrägem Dache. Wie er verwirrt wurde, als ich kam! Stand da und stammelte, und errötete, stammelte und errötete.
Ein runzliges Mütterchen ging herum und kramte. Sie war so unschuldig, sie lachte zu Allem, küsste so hübsch den Sohn auf die traurigen Augen.
Auf dem Tische stehen Porträts von russischen Dichtern und deutschen Sozialisten. Ringsherum an den Wänden hängen Gemälde mit dunklen Himmeln, Wüsten, schwarzem Meer bei Nacht, schwermütigen, träumenden Gesichtern.
Mir wird so beklommen, wenn seine Augen so ängstlich auf mir ruhen. Ich kann ja nicht Antwort geben auf seine Fragen und seine kranke Hoffnung.
So dasitzen müssen die langen, grauen Tage, aus dem Dachfenster stieren, in halblichten Bildern versinken, die nicht dem Leben des Tages angehören, dem arbeitenden Leben — —!
Dasitzen Tag für Tag und sich fragen: Warum lebe ich? — —
* * *
Was kann das sein? Ihre Schritte sind nicht mehr leicht und rasch. Und ich werde so unruhig, kann nicht arbeiten.
* * *
Es ist so öde geworden, keine bekannten Schritte mehr, kein Rauschen eines Kleides. Es ist, als wären alle Menschen weggegangen und die Häuser ständen leer. Zuweilen glaube ich Wimmern und halberstickte Schreie zu hören. Ich habe zu viel mit mir allein gesessen, bin nervös geworden.
* * *
Sie hat grosse, denkende Augen, — und blasses Gesicht, — und feine magre Hände.
Sie heisst Liv. Das bedeutet ,Leben‘. Ein eigentümlicher Name. Und echt norwegisch. Ich sehe noch ihre Augen, wie sie ihn nannte. Es war, als sah sie weit hinaus einem Lande entgegen, das in einer verborgenen Sonnenwelt liegt, und zu dem der Name der Schlüssel war.
Fünf Tage lang hat sie da oben krank gelegen, ohne dass Jemand ihr half oder sie pflegte. Sie ist fremd hier, elternlos und hat wohl auch keine Freunde. Wie müssen ihr die Nächte lang und voller Angst gewesen sein!
* * *
Zu Hause glauben sie jetzt, dass ich auf bestem Wege bin, ein Sonderling zu werden. Ich merke es aus den Briefen. Sie bedauern, dass ich mich in ungesunde, unfruchtbare Träumereien verliere, und für das vernünftige, behagliche Leben unbrauchbar sei.
Gut. Dann sei es so. Es ist ja gar nicht sicher, dass ich zu dem tauge, was die Menschen gross nennen.
Mir gefällt mein zurückgezogenes Leben. Und es giebt einen Menschen, für den ich etwas bin. Ich sitze am Tage bei Liv. Sie ist froh, so zu liegen und meine Hand in der ihren zu halten; ihre Augen hängen an mir, wenn ich spreche.
Lass die Andern sich doch amüsieren, lass sie Vaterlandslieder singen!
* * *
Es ist etwas Reines, Keusches um mich gekommen. Livs Gedanken. Sie falten sich um mich wie ein weisses Gewand.
* * *
Soll sie sterben? Grade jetzt, wo die Blumen knospen, wo auch ihre eigene Knospe reift und All das kommen sollte, was die Brust des Weibes schwellen lässt!
Wenn ich draussen gewesen bin, hat sie stets so viele Fragen: ob die Schwäne schon freigelassen sind, ob die Veilchen schon blühen, ob der Himmel klar ist oder bewölkt, ob schon helle Kleider getragen werden, ob ich den Staar gehört habe?
Und von all dem Schönen will sie hören, das ich weiss. Dann sitze ich in der Dämmerung und erzähle ihr von den hellen Nächten des Nordens, von dem Silberschein über den Bergen, wie sie stehen und auf den ersten Sonnenkuss warten.
Und sie erzählt mir, was ihr Freude machte, als sie noch zur Arbeit gehen konnte: so zu gehen und die Wolken anzusehen, wie sie treiben und sich teilen und sich mit wechselnden Farben füllen, — und die herbstlichen Blatthaufen, wie sie mit jeden Tag anwuchsen, während die Baumkronen nackter wurden, ihre Zweigspitzen feiner und die Luft herum weisser. Wenn Sommer war, machte sie oft den Umweg durch den Park, um ein Bischen Duft von den Blumenbeeten einzuatmen und ein paar Minuten am Wehr stehen zu bleiben und die Schwäne anzusehen, wie sie in stolzer Anmut vorüberglitten.
* * *
Ich fühle, wie sie grösser und grösser wird und ihre Seele sich weitet in mächtiger Reinheit. Es ist oft etwas über ihr, was mich so ängstlich macht und so erbärmlich klein. Meine Brust schnürt sich zusammen. Es kommt mir vor, als ob auch ich nicht länger hier in dieser lärmenden Welt sein kann, in diesem Trubel von Eisenbahnen und Reichstag und Theater. Ich sinke nieder und ergreife demütig ihre Hände.
Sie lässt mich sie nehmen — und sieht ins Weite vorbei an mir.
* * *
Liv ist von Island her. Sie, die feine, weisse Gestalt, deren Hand wie ein Schatten über die Bettdecke gleitet und in deren Augen ein Glanz ist, wie er weicher nicht sein kann, sie hat so fremde, schlurrende R-Laute, die so sonderbar schwer in ihre sonst so sanfte Sprache treten.
Weit da draussen im Norden, wo ein kleiner, weisser Fixstern flackert, sagt sie, dass die Seelen ihrer Mutter und ihres Vaters auf sie warten, inmitten der Nordlichter, die wir hier nicht sehen können.
* * *
Sie lag und sah mich an mit einem Lächeln, wie man es oft bei Kranken sieht. Dann fing ihr Körper plötzlich an zu zittern, die Wangenflächen wurden blasser, oben auf der Stirn unter dem blanken, schwarzen Haar traten die Adern hervor, die Arme und der Kopf fielen zurück, und die Lider schlossen sich. Aufgelöst in lange, schmerzhafte Zuckungen sank sie in meinen Armen zusammen. Dann kam es — das Blut.
Darnach wurde sie ruhiger. Sie lag, ohne sich zu rühren, an mich gelehnt. Dann fing sie an zu sprechen, erst flüsternd, nach Luft ringend, dann stärker. Sie konnte nicht mehr zurückdrängen, was sie zu stolz gewesen war, jemals zu erwähnen. Aus ihrer bebenden Brust pressten sich brennende Worte, Alles, was sie vermisst hatte: Freunde, Freundinnen, Liebe, Jubel des Lebens, — wie ihr Leib gewartet hatte auf den ersten Regentropfen des Kusses, wie sie an den dunkeln Abenden vor Fenstern gestanden hatte, wo Liebe war und Musik, und sich gesehnt hatte, mit dabei zu sein, zu tanzen, und umarmt zu werden und geliebt zu lieben.
Vorsichtig drückte ich den krankheitszarten Leib an mich. Das war so still. Kein lärmendes Licht.
* * *
Ich liebe ihre Seele, die wehmütige, die vermisst hat. Sie blüht nun in ihren Augen, und in den Biegungen ihrer Hände, und macht ihre Worte zärtlich.
Ich liebe diese welkenden Arme und schwindenden Wangenflächen, aus denen ihre Seele stärker strahlt, während sie weisser werden.
Vielleicht am Besten, dass sie das Leben nicht kennen lernte. Vielleicht am Besten, dass sie stirbt, bevor sie sieht, dass die Freude der Menschen nicht frisch ist, dass ihr Jubel hinter den leuchtenden Fenstern voll Verzweiflung und Schande ist.
* * *
Es ist mehr in dem, was um uns blüht und atmet, als unsre Augen sehen und unsre Ohren hören. Wie es Laute giebt, die wir nicht vernehmen können, so giebt es Licht und Farben, die wir nicht gewahr werden.
Für eine feine Seele werden die Farben, die uns zart erscheinen, grob sein, die Laute, die uns sanft erscheinen, wild und roh sein.
Als ich heute den See entlang ging, hatte ich ein Gefühl, die Welt sei neu geworden. Es waren da in dem Luftnebel Stimmen. Sie sprachen nicht meine Sprache, auch nicht die der Vögel oder des Windes. Auch die Farben hatten Stimme und Wort. Sie waren mächtiger und reicher, und es waren mehr als sonst; das Grün der Bäume hatte tausend Zungen.
Und wie es singt und ich lausche und der Gesang wächst, strömt da über Gras und Blumen hin, hin über den See und das Buchenlaub ein Wort, das alle Fäden im Gewebe meines Leibes mit erklingen lässt und mich küsst wie Luft und Duft: Liv!
Und all die unsichtbaren, rieselnden Stimmen, die strömen mit meiner zusammen in eine mächtige, jubelnde Weltstimme: Liv!
* * *
Ich liege jetzt oben in ihrem Zimmer Nachts, um ihr nahe zu sein. Ich habe meine Betten hinaufgebracht und liege auf dem Boden.
Ich schlafe nicht viel. Es ist so sonderbar, wenn ich aus dem Halbschlummer aufwache und gegen das kleine Dachfenster sehe: Der Himmel kommt mir näher vor. Und ich sehe ihn anders an als früher. Es ist als ob da etwas wäre, das ich kenne.
Zuweilen werde ich aus dunkeln Träumereien aufgeweckt, aus bangen, grossen Ahnungen, durch eine Stimme — sie klingt so unendlich lieb im Schweigen der Nacht: Schläfst du?
Zuweilen flüstert es: Vater unser, der du bist... Dann möchte ich mich fortstehlen. Es ist etwas darin, das mich hinzieht zugleich und wegdrängt, und das drückt mich.
* * *
Ich lag wach. Ich glaubte, sie schliefe. Aber da sagte sie kaum hörbar:
— Würdest du an Gott glauben, wenn du könntest?
Was sollte ich antworten? Wer war Gott? Ein Begriff. Eine Krankenphantasie. Eine Hallucination für die frommen Jungfrauen auf alten Gemälden.
— Weisst du, warum ich glaube?
Ich hörte, wie sie sich im Bette aufsetzte und schwer nach Atem rang:
— Ja, Lieber. Ich glaube, dass Gott ist, weil — weil — — es wäre so bitter, wenn er nicht wäre; es wäre so bitter, wenn ich, die es ja nicht gut gehabt hat, und viele Andere, die es noch viel schlimmer hatten, — wenn wir nun glauben, wenn ich nun denke: ich sehe Ihn, sehe ihn näher kommen jeden Tag und jede Nacht — o es wäre so grenzenlos bitter, wenn es nur Einbildung und Lüge wäre. Ich kann nicht glauben, das alles so fürchterlich unsinnig ist. Ich muss die Wahrheit zu wissen bekommen, es muss mehr sein als dies Irdische, und Jemand muss es wissen und kennen. Immer habe ich gehofft, dass ich mehr zu sehen und zu wissen bekommen würde und nicht immer so unwissend und einfältig bleiben wie jetzt; ich habe ja nichts gesehen und weiss ja nichts, — und wenn ich immer so sicher, so sicher darauf gewartet habe, so sollte es Einbildung sein? — so sollte es (ich fühlte, wie sie die Hände erhob) so grausam, so höhnisch sein, — — dass dies kleine Sorgenleben das Ganze wäre.
Ich fühlte, — sehen konnte ich nicht, es war zu dunkel, — dass sie erschöpft auf die Kissen zurückfiel.
Ich stand auf und ging hin zu ihr. Sie lag mit Augen, die — — — mich fremd gemacht haben unter den Lebenden.
Glaubst du, dass der Schnee jetzt geschmolzen ist da zu Hause in deinen Bergen?
Wenn der Schnee in deinem Lande aufgetaut ist, dann taut er gewiss auch bald auf Island.
Träumst du, Liv?
Ja.
Was träumst du?
Ich träume, dass Island sich jede Nacht um einen Zoll verschiebt. Und nach und nach schmilzt das Eis auf der Nordseite. In ein paar tausend Jahren sind die Küsten so warm, als wär’ es das Südmeer, worein sie sich tauchen. Statt Renntiermoos wachsen dann Haufen von roten und violetten Glockenblumen auf hohen, stolzen Stengeln, und es wimmelt von Vögeln und Insekten, die wie Silber und Gold blinkern. Die Schutthalden und Eisblöcke sind fort, und da stehen dicke, wollige Wälder, die hüllen die Gehöfte ein und wehren den Wind und den Frost ab.
Ich bin auch da, und du. Aber ich bin nicht mehr krank, und spucke nicht Blut, und brauche nicht zu arbeiten für mein tägliches Brod. Nein, ich bin gross und stark, und brauche mich nicht zu schämen, von dir geliebkost zu werden. Und du sitzest bei mir und erzählst mir von allem, was du gedacht und gesehen hast, und keine Wagen stören uns, nur ein Wasserfall wiegt uns in Schlaf, während die Nordlichter tanzen.
* * *
Es war heute Nacht um zwei Uhr herum. Ich hörte, sie rührte sich. Ich konnte nicht sprechen, eine unbestimmte Angst hatte mich ergriffen.
Sie wankte aus dem Bett heraus. Langsam, Schritt für Schritt, tastete sie sich zum Fenster hin. Sie legte beide Ellbogen auf das Brett und stand und sah hinaus.
Dann kam sie heran, wo ich lag. Sie legte sich nieder an meine Seite. Ihr Haar streifte mein Gesicht. Ich hielt meine Augen krampfhaft geschlossen.
Lange lag sie so. Dann konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich flüsterte: Liv! Sie antwortete nicht. Ich legte die Arme um sie und sah ihr in die Augen. Im Halbdunkel sah ich, sie waren gebrochen.
Ich lag mit dem Arm um ihren Hals. Die Erde ging ihren Gang. Die Menschen schliefen weiter.
Ich bin wieder allein, mehr allein als zuvor.
Ich gehe herum wie ein Nachtwandler. Es gehen Leute um mich herum, aber sie sind wie Schatten aus einer anderen Welt.
Ich sollte eigentlich reisen. Aber es hält mich etwas zurück, — diese Strassen, diese Häuser, diese Laternen, — ich gehe nur immer auf und ab zwischen ihnen, statt zu reisen. Ich starre auf das alles, als hätte es Menschenaugen. Geht Jemand hinter mir?
Ich liebe die Brücken draussen in den Vororten. Ich komme da hinaus ohne es gewahr zu werden, bis ich dastehe; und ich bleibe da stundenlang stehen. Es kann mir auf einmal klar werden, dass es ein Boot, das unten liegt, gewesen ist, was ich betrachte, oder ein Baum, der sich über das Wasser beugt. Dann wieder werde ich plötzlich die Himmelswölbung über mir gewahr: es ist der Mond, der aus den Wolken tritt, oder ein Windstoss, der mir durch das Haar fährt. Dann ist es wieder Jemand, der mir so wunderlich in die Augen sieht: ein zufällig Vorübergehender.
Es ist, als wäre ich zuhause da draussen in den Arbeiterquartieren. Diese gesenkten Gesichter mit den tiefliegenden Augen und herausstehenden Backenknochen, die da leben und sterben gleich den lichtscheuen Asseln unter den Steinen: mit denen fühle ich mich verwandt.
Die breiten Hauptstrassen machen mich krank. Diese üppigen Brüste, diese gehobenen Köpfe, Kleider, die sich auf leckern, geschmeidigen Hüften schaukeln, Lächelmienen, — all dies, das einem zuschreit: Küsse, lebe, geniesse! — Damen, von lüsternen Herrenhänden in dunkle, lockende Wagen gehoben, Laute von Küssen hinter Portièren, Laute von Bruderschaftsgetrinke in schlechtem Wein, saftige Händedrucke von wedelnden Freunden — — oh, es wird so stickig! Ein stilles, versteinertes Weinen verschliesst mir die Kehle: dass die Menschenfreude eine Dirne ist, die den ganzen Luftkreis füllt mit dem Gestank ihrer billigen Wohlgerüche.
Ja ich muss fort, weit, weit fort zu einer Stelle, wo nur der Atem der Erde und des Meeres gen Himmel steigt.
* * *
Ja, ich muss fort. Ich muss es sehr still haben. Ich muss so weit fort von den Omnibussen und Asfaltstrassen und Theatern, wie ich kommen kann. Denn es ist etwas, das ich klar haben muss.
In den Nächten an dem grossen Meere, wird da nicht das Wort des Rätsels kommen und sich flüsternd hernieder senken in meine Seele, wohl anfangs schwach und unsicher wie eine Schwingung, die nicht Ton geworden ist, dann aber stärker, je stiller und stiller es wird?
Wenn all die schlurrenden Laute verstummt sind, wenn man mich vergessen hat und ich selbst vergessen habe, wird es dann kommen — und alles klar werden — und meine Seele erwachen?
[Texten hämtad ur Pan, Heft III (1895), s. 155–163. Ett tryckfel har rättats: »ihre Hände« → »ihre Hände.«.]